Puppen ohne Ende
Für eine Geschichte, die von jeder Redaktion abgelehnt wurde, ist sie erstaunlich langlebig: In den letzten sechs Monaten wurde meine Geschichte über die Puppen aus Nagoro groß im Stern gedruckt, im Fernsehen rauf und runter gespielt – und gelangte sogar bis ins National Geographic in den USA.
Ja, wirklich.
Vergangene Woche überschritt der Zähler von „Valley of Dolls“ auf Vimeo eine halbe Million Klicks. Zeit für einen neuen Rückblick.
Im Dezember 2014 war ich furchtbar pleite. Keiner wollte die Geschichte von den Puppen kaufen, meine Ersparnisse waren aufgebraucht und das Konto war im Minus. Ich erinnere mich noch sehr gut an einen Tag, an dem ich nur noch ein paar Scheiben altes, trockenes Brot hatte, welche meine Mutter mir in Berlin noch in den Rucksack steckte. Auf das Brot packte ich das einzige, was sonst noch im Kühlschrank war: Butter und Gurkenscheiben.
(War allerdings sehr lecker)
Die Wende kam zum Glück schon eine Woche später.
Doch der Reihe nach: Ende November 2014 schrieb ich das erste Mal über die Entwicklung meiner Geschichte „Im Tal der Puppen“ in den deutschen und internationalen Medien. Ich dachte zu dem Zeitpunkt, dass nun nichts mehr kommen wird, da die Geschichte so häufig publiziert und kopiert wurde.
Am nächsten Morgen verlinkte Bildblog.de in der Rubrik „6 vor 9“ auf exakt diesen Beitrag und sorgte für die meisten Zugriffe auf dieses Blog seit seiner Gründung.
Bildblog ist eine wichtige Seite für Medienmacher, viele Journalisten lesen es täglich. So auch ich.
Neulich war ich bei einem Treffen von Reportern und brauchte nur wenige Worte sagen, da zeigte schon ein mir bis dahin unbekannter Kollege mit dem Finger auf mich und meinte: „Du bist der Puppen-Mensch! Ich hab das auf Bildblog gelesen.“
Dezember 2014
Eine Woche nach dem Eintrag schrieb mir die Telekom. Beziehungsweise es schrieb mir die Redakteurin von telekom.de, welches auch eine „News & Stories“-Sparte hat. Dafür wollten sie nun die Bilder der Puppen. Erst ohne Geld, dann mit Geld, aber für weniger, als ich sonst nehme. Nach ein paar Mails hin und her kamen wir beide auf eine Summe, die nicht ganz so weh tut (und mein Kühlschrank verhandelte mit).
Das war an einem Dienstag Morgen. Das weiss ich noch so genau, weil ich zu dem Zeitpunkt in einem furchtbaren total spannenden Seminar saß und die Bilder nicht schicken konnte. Dienstag Mittag jedoch kam dann die Absage der Telekom, man hatte es sich anders überlegt.
Was war passiert?
Nun, AP hatte die Geschichte kopiert.
An dem Dienstag, gegen mittag deutscher Zeit, ging das Material über die Puppen von der Agentur Associated Press online. Und die Tarife von AP sind billiger preiswerter als die eines freiberuflichen Journalisten. Telekom.de publizierte die Geschichte kurze Zeit später. Ohne mein Material, aber mit den Fotos von AP.
Ich sprach mit der Journalistin von AP, wie sie denn auf die Geschichte gekommen ist. Auf Twitter bestätigte sie mir, dass meine Geschichte „eine große Hilfe“ gewesen ist.
Man hat kein Patent auf eine Story. Ist sie draußen, kann jeder sie nachmachen. AP stellte jetzt billiges preiswertes Bildmaterial der Puppen zur Verfügung.
Gut, dachte ich, ich hatte meine Erfolge und Publikation gehabt, das wars jetzt endgültig. Wer sollte mich jetzt bitte noch anrufen und meine Bilder kaufen, wenn er gleichzeitig das günstige Material von der Agentur bekommen kann?
Eine Woche später rief der Stern an.
Tatsächlich brachte die Veröffentlichung von AP noch mal ein großes Interesse an meiner Arbeit. Innerhalb einer Woche gab es eine Flut von Anfragen. Der Stern wollte es auf sechs Seiten drucken und eine Zeitung aus Südafrika bat mich um ein Interview. Auch D-Radio Wissen führte mit mir ein Gespräch im Rahmen eines Themenabends.
Das mit dem Stern hat eine Vorgeschichte. Ich hatte der Redaktion damals im April 2014 die Geschichte exklusiv angeboten. Damals hieß es „schöne Geschichte, passt aber nicht.“ Im Juni 2014 schrieb mich dann Stern View an, sie wollten eine Doppelseite bringen. Aber nach der ersten Mail kam dann nichts mehr. Jetzt im Dezember hatte ich schon nicht mehr damit gerechnet, es je im Blatt zu sehen. Doch spätestens als ich es dann im Kiosk bei mir um die Ecke gedruckt im Stern sah, glaubte ich dran.
Im Studium sagte man uns, dass der Stern nur Exklusives druckt und man gar nicht probieren sollte, nach einem Abdruck in einem anderen Blatt es noch dort anzubieten. Der Stern war jetzt im Dezember 2014 ungefähr die achte Redaktion, welche meine Geschichte druckte. Die Medienlandschaft ändert sich…
Bei jeder Publikation gilt: Je größer ein Foto gedruckt wird, desto teurer ist es. Eine Foto-Doppelseite im Stern für einen freien Fotografen bringt, soweit ich weiss, etwas unter 1.000 Euro.
Groß gedruckt im Stern wurden die Bilder von AP, die kleineren stammten von mir. Im Text wurde ich erwähnt und aus meiner Arbeit gab es Zitate. Stern Online hat die Geschichte auch gekauft. Für alles zusammen habe ich weniger bekommen, als das Honorar einer Doppelseite. Auch hier gilt: Der Abdruck von Agentur-Fotos ist billiger preiswerter, als die von freien Fotografen.
Puppen in der Welt
Wie im letzten Teil erwähnt hatte die Vanity Fair in Italien 16 Fotos aus dem Video geklaut und eine Klickstrecke für ihre Website gebastelt. Ich ließ das über meinen Rechtschutz bei djv/ver.di laufen und wir konnten sehr schnell eine Einigung erzielen. Kurz vor Weihnachten ging dann ein vierstelliger Betrag der Vanity Fair auf mein Konto ein.
Und wer sagt: „Als freier Journalist bloß nicht klagen, man kriegt nie wieder Aufträge“ dem sage ich: Nur einen Monat später erhielt ich eine Anfrage vom gleichen Verlag zu Houshi. Es war denen einfach egal.
National Geographic schrieb mir in der gleichen Woche wie der Stern. Ich dachte erst, das kann nicht wahr sein und fragte erstmal nach. „Ist das euer Ernst? Wollt ihr wirklich diese unfertige Arbeit?“. Sie wollten. Über Weihnachten habe ich das Video noch mal etwas überarbeitet und bereinigt. Es ist schließlich National Geographic!
Im Januar ging es dann online.
Eine Woche später hatte ich einen Termin bei meiner Bank. Der Angestellte hatte zwar keine Ahnung von Fotografie oder Journalismus, aber ich brauchte nur mal „National Geographic“ sagen und er legte jede Skepsis bei meinen Anträgen ab.
Ebenfalls im Januar gab es ein Filmfestival in London, welches die Puppen zeigte. Es war das nunmehr vierte Festival, aber das erste, von dem ich Fotos habe.
Im März 2015 zog dann Reuters nach und publizierte ihr eigenes Material zu Nagoro. Ob da nun die Inspiration von mir stammte oder von AP ist nicht mehr zu sagen. Inzwischen sehe ich das auch alles entspannter. Ich hatte meinen Erfolg und trotz dieser Flut an billigen preiswerten Material wurde meine Arbeit immer noch nachgefragt. Nur die Veröffentlichung in Die Welt und in der Zeit machten mich etwas traurig. Beiden Redaktionen hatte ich lange vorher die Geschichte angeboten, mit der Welt stand ich sogar in Verhandlung. Aber es wurde nichts draus. Ich will ungern daran glauben müssen, dass es am Ende nur eine Frage des Geldes und nicht der Geschichte war.
Wie schon bei AP brachte die Veröffentlichung von Reuters noch mal ein neues Interesse an meiner Arbeit. Das Magazin Foreign Affairs aus den USA kaufte die Geschichte zwei Wochen nachdem Reuters damit online ging. Ich schrieb auch den Text dazu, was mein erster englischsprachiger journalistischer Text seit einigen Jahren war. Ging trotzdem ganz gut von der Hand.
Das Harper’s Magazine aus New York meldete sich auch, aber die wollten nur Infos von mir, den Rest erhielten sie von Reuters. Sonst würd ich sowas ja nicht ohne Weiteres machen, aber ein kurzer Blick auf das linked.in Profil der Kollegin (die mit Nachnamen tatsächlich „Love“ hieß) zeigte mir, dass sie eine ewige Praktikantin in New York ist, die sich von Redaktion zu Redaktion hangelt. Da war ich solidarisch.
Im Mai 2015 dann endlich waren die Puppen auf Pro7 zu sehen. Galileo Big Pictures war ja die erste deutsche Redaktion, die mich überhaupt angeschrieben hatte.
Als ich anfing mich für Fotografie zu interessieren – es muss so zum Abitur gewesen sein – lief die allererste Ausgabe von Galileo Big Pictures. Ich kann mich noch genau daran erinnern. Ich saß in meinem Zimmer in der Wohnung meiner Eltern und sah diese fantastischen Bilder aus der ganzen Welt. Insgeheim dachte ich mir: Irgendwann will ich auch mal so gut sein, dass meine Bilder im Fernsehen gezeigt werden.
Es klingt so naiv, dass jetzt aufzuschreiben. Schließlich habe ich seitdem so viel mehr publiziert. Aber ungefähr sieben Jahre nach diesem Abend im Jugendzimmer waren meine Bilder tatsächlich im Fernsehen zu sehen.
Und sie haben den Moderator sogar in das Foto montiert, hihi.
Man kann ja von Galileo halten was man will. Essensberichte aus der ganzen Welt, Fabrik-Besichtigungen großer Konzerne oder die eine oder andere falsch beschriftete Karte. Aber fakt ist, die Zusammenarbeit war besser und angenehmer, als mit den meisten Printredaktionen, die ich kenne. Sie haben pünktlich & gut gezahlt und mein Name wurde ständig beim Foto eingeblendet (tatsächlich keine Selbstverständlichkeit mehr). Der Kontakt vorher war auch immer professionell und akkurat. Gerne wieder.
Vor zwei Wochen waren die Puppen auch im ZDF Mittagsmagazin zu sehen, aber ohne mein Material. Der Beitrag lief vorher schon in einem anderen ZDF-Format (und ich find ihn besser gelungen als den von der ARD).
Puppen mit (vorläufigem) Ende
Die Geschichte ist jetzt schon etwas länger als ein Jahr online. Ich würde sie nicht als meine beste Arbeit bezeichnen wollen, aber es ist definitiv die erfolgreichste. Es hat Türen geöffnet und war ein gewisser Wendepunkt für mich als junger Journalist. Ich konnte lernen, wie die Medienlandschaft heute funktioniert. Ich habe auch verstanden, dass eine Geschichte, die keiner am Anfang haben will, nicht schlecht sein muss. Nirgends, wo ich sie angeboten hatte, wurde sie genommen. Alle Veröffentlichungen oder Verkäufe konnten nur entstehen, weil das Video ein Selbstläufer online war.
Ich denke aber auch, dass der Lauf jetzt vorbei ist. „Im Tal der Puppen“ hatte ich in den letzten Monaten noch bei einigen Sachen eingereicht, aber nirgends kam etwas zurück. Die Geschichte hat sich auch etwas Ruhe verdient.
„Houshi“ hat zwar inzwischen eine Viertel Million Views (plus noch einmal genau so viel auf TheAtlantic), aber eingeschlagen wie die Puppen hat es nicht. Auch mein neuester Film braucht noch etwas, bis er richtig Fahrt aufnimmt.
Von jeder Geschichte so einen Höhenflug zu erwarten, wie bei den Puppen und dann enttäuscht zu sein, wenn es nicht so ist – dem war ich auch erlegen. Mittlerweile bin ich entspannt und konzentriere mich auf den nächsten Filn. Es wird der vorerst letzte aus Japan sein.
Jede Geschichte ist anders. „Houshi“ hatte nach 24 Stunden 50.000 Views. Die Puppen brauchten damals zwei Wochen bis dahin, aber dafür hatten sie am Ende mehr. Nicht jede Geschichte brennt rasant oder hell. Aber es war spannend in das Leuchtfeuer der Puppen zu schauen und die Funken fliegen zu sehen.
Making of: Houshi, 2. Teil
Drei Monate später ging es erneut ins Houshi. Etwas sagte mir, dass ich an einer großen Geschichte arbeitete. Es brauchte nur noch etwas mehr…
Also noch einmal, mit Gefühl.
Hinweis: Wie schon in Teil 1 habe ich viele animierte Endlosschleifen eingebunden, die bei WordPress leider nicht automatisch abspielen. Also einfach anklicken und den Mauszeiger vom Bild nehmen.
Diesmal war alles ganz entspannt.
Von Hiroshima nahm ich den Tages-Bus nach Kyoto – den kann ich mittlerweile echt empfehlen. Es sind selten mehr als zehn Leute an Bord, man fährt entspannt durch den Sonnenschein und ist pünktlich zum Abendessen da. Ich hatte wie immer kein Zimmer gebucht, sondern übernachtete wie sonst auch im Internetcafé in der Nähe des Bahnhofs. Ich glaube, das musste dort jetzt schon das zehnte Mal gewesen sein. Vorher zog ich eine Weile durch die Stadt. Das Gepäck schloss ich im Bahnhof ein, am Körper hatte ich nur Zahnbürste, ein extra Shirt, die Kamera und einen Umschlag.
Mit Umschlag und Kamera lief ich zu einem Café am Fluss, das mir eine Freundin empfohlen hatte. Mit dabei waren die ausgedruckten und übersetzten Interviews der Familie Houshi. Fast drei Monate lagen nun schon zwischen dem ersten Dreh im April und heute. Die lange Zeit war super, um die Geschichte noch einmal zu reflektieren und neue Bildideen zu entwickeln. Beim ersten Besuch wusste ich noch nicht, wohin die Geschichte am Ende geht. Ich konnte in diesem Café in Kyoto gezielt planen, welche Motive ich noch brauche, um das Innenleben vom Haus und das der Bewohner visuell zu erzählen.
Als es dunkel wurde, begann ich den langen Marsch zum Internetcafé. Je später man kommt, desto billiger ist nämlich das Zimmer. Kommt man dann aber zu spät, ist kein Zimmer mehr da und es gibt nur noch Kapseln. Ein Tanz mit dem Feuer Komfort.
Ich kam kurz nach 22 Uhr an, also blieb nur noch die Kapsel: ein Loch aus Holzbrettern, knapp einen Meter breit, einen Meter hoch und 180 Centimeter tief. Am Boden keine Matratze sondern nur eine dünne Decke. Eine zweite diente als Bettzeug. An ein Kissen kann ich mich nicht erinnern, aber dafür war meine Tasche ja da. In die Koje schmiss ich den Umschlag – den ich wie ein Depp die ganze Zeit in der Hand tragen musste, weil er nicht in meine Tasche passte.
Am nächsten Morgen, den Umschlag wieder in der Hand, hatte ich noch etwas in Kyoto zu erledigen bevor es zum Houshi gehen konnte. Es sollte mein letzter Besuch in Kyoto sein. Ich traf noch eine Freundin, besuchte das Manga-Museum und lieferte endlich diesen dämlichen Umschlag ab.
Ich habe einen Monat zuvor hier nämlich meinen dritten Film in Japan gedreht, an dem ich zur Zeit in Hannover noch schneide.
Als Dankeschön für die Erlaubnis dort zu drehen, brachte ich dem Betrieb ein großes Foto der Mitarbeiter mit, welches ich in der Universität in Hiroshima selbst druckte. Das aktuellste Foto der Firma stammte aus den 90er Jahren, man freute sich also sehr, dass ich vorbei kam.
Bei der Verabschiedung:
„Ich fahre jetzt nach Ishikawa um dort meinen nächsten Film zu drehen“
-„Oh, da nimmst du bestimmt den Donnervogel-Schnellzug?“
„Ha….. nein…“
Mit der Bimmelbahn Regional-Bahn ging es langsam aber billig zurück zum Houshi. Der Wagen des Hotels wartete diesmal schon auf mich am Bahnhof.
Wieder war ich der einzige Gast um diese Uhrzeit. Aber etwas war anders. Statt einem Dutzend Angestellten in Kimono begrüßten mich nur Shou, der chinesische Angestellte, dazu die Rezeption und eine Dame in Uniform. Man gab mir den gleichen Raum wie drei Monate zuvor und auch Shou war wieder für mich zuständig. Ihm hatte ich auch einen kleinen Kuchen aus Hiroshima mitgebracht.
Tochter Hisae hatte inzwischen die Führung vom Hotel übernommen und es gab einige Änderungen. Das Essen wird jetzt nur noch gegen Aufpreis im Zimmer angerichtet, für die meisten Gäste gibt es den Speisesaal. Das spart Geld und die leeren Partyräume des Houshi werden endlich wieder einmal genutzt.
Jedes Zimmer hat nun nicht mehr nur einen Angestellten, sondern ein Bediensteter muss mehrere Räume abdecken. Die Mitarbeiter alternieren jetzt auch. Shou wäre eigentlich nur einen Tag für mich da gewesen, aber auf unser beider Wunsch hin machte man eine Ausnahme. Ich entdeckte in der Zeit noch viele kleine und größere Änderungen, die seit meinem letzten Besuch entstanden sind.
Vater Houshi begrüßte mich von der Familie als erstes. Er fragte mich, ob ich vorher schon mal in einem japanischen Gasthaus war. Tochter Hisae kam hinzu und ermahnte den Vater scherzend, dass ich doch schon einmal hier war und ein Interview mit ihnen machte. Wie Hisae anschließend mir unverblümt sagte, hatte ich etwas zugenommen und auch die Frisur war anders, aber daran lag es wohl nicht, dass Zengoro mich nicht erkannte.
Im Laufe der nächsten Tage sprach er mich auf viele Sachen von meinem ersten Besuch an, ganz vergessen hatte er mich also nicht. Er hat in seinem Leben sicher Hunderttausende Gäste begrüßt und verabschiedet. Da kann man im hohen Alter sicher auch mal durcheinander kommen.
Wenig später kam auch Naomi hinzu, die Übersetzerin. Diesmal mit dem kleinen Kind, welches bei meinem letzten Besuch nur krank war. Der Kleine war noch nicht mal 12 Monate alt, sah aber so kräftig aus wie ein Dreijähriger. Der Papa ist Europäer, daher ist dem Jungen manchmal ein „Dada“ rausgerutscht, als er mich sah. So viele Europäer gibt es in dem Ort nämlich nicht.
Ohne Scheu krabbelte und kletterte er durch das ganze Hotel und Naomi, dreifache Mutter, ließ ihn ohne Angst alleine. Für sie ist das Houshi auch eine Art Zuhause. Sie meinte, das gehöre zur Erziehung, die Kinder einfach mal den Freiraum zu lassen um selber auf die Nase zu fallen. Japanische Mütter sind da sonst viel beschützender, kritisiert sie.
Vater Houshi kam auch zu mir und Naomi hinzu. Er überreichte Naomi einen Umschlag mit Geld. Sie lehnte, wie es sich gehört, erst höflich ab, steckte es dann aber ein. „Für den Kleinen“ sagte Vater Houshi, dem man in diesem Moment auch den Opa abgenommen hätte.
Um Naomis Schulter hing eine Tasche von Louis-Vitton. Original. Darin bewahrt Naomi die frischen und vollen Windeln vom kleinen Kind auf. Die teure Marke ist ihr dabei, im wahrsten Sinne des Wortes, scheissegal. Sie brauchte einfach eine Tasche und ihre Tante schenkte ihr eine von einer Designermarke.
Ich denke, die Louis-Vitton-Windeltasche beschreibt Naomi als Mensch sehr gut.
Sie freute sich, mich zu sehen, und während Hisae vergnügt mit ihrem Kleinen spielte, unterhielten wir uns. Ich fragte auch sie, ob sie wie Hisae das Gefühl hat, dass ich zugenommen habe. Sie wüsste das nicht, aber sie hatte auch nicht so sehr auf mein Äußeres geachtet wie Hisae, sagt sie.
Ich kann bis heute nicht sagen, ob Hisae nun mit mir geflirtet hat, oder nicht. Ich bin meist recht blind für sowas, und Japanerinnen flirten eh anders. Aber bei jedem Besuch hat sie immer meine Nähe gesucht und bis zum heutigen Tage schickt sie mir regelmäßig Nachrichten und Fotos, wenn sie zum Beispiel einen teuren Kimono trägt oder Kuchen gebacken gekauft hat.
Ich denke sie sucht einfach eine Vertrauensperson.
Hisae ist kinderlos. Doch jedes Mal, wenn ich sie mit den Kindern von Naomi spielen sehe, blüht sie richtig auf. Ich denke sie wünscht sich auch Kinder, aber wie soll dafür Zeit bleiben, wenn man alleine das Erbe von 46. Generation retten muss.
Ich hatte eine lange Liste von Motiven, die ich noch mitnehmen wollte. Dazu gehörte auch die Küche, die mir Shou im Keller zeigte. Ich drehte jeden Topf, jede Flamme und das Sushi in der Zubereitung aus verschiedenen Perspektiven – und musste doch am Ende alles wegschmeissen. Als Profi muss ich natürlich sagen: es passte nicht mehr in den Film. Die Wahrheit ist aber, dass ich enorme technische Probleme mit dem Material hatte. Aber der Film vermisst die Küche auch nicht.
Die drei Monate, die ich physisch nicht im Houshi war, aber gedanklich schon, waren sehr wertvoll für mich. Auch der zweite Besuch jetzt, wo ich die Familie einige Zeit nach der folgenreichen Entscheidung traf, haben meinen Blick für die Geschichte geschärft.
Nach dem Interview dachte ich so, wie viele Zuschauer vom Film es manchmal in die Kommentare schreiben: Der Vater ist ein konservativer Macho, der seine Frau und Tochter quält. Die arme Tochter hat sich das nie ausgesucht!
Der räumliche Abstand gab mir aber eine Möglichkeit, einen Schritt zurück zu gehen. Wie bewerte und sehe ich denn diese Familie? Mit einem europäischen Blick. Diese Familie ist anders aufgewachsen, es ist selbst für Japan eine ganz andere Kultur. Wer bin ich denn mir zu erdreisten denen vorzuschreiben, was richtig und was falsch ist? Ihre Werte und Realität sind anders als meine. In der Welt der Houshi zählt die Familie alles. Als Außenstehnder das zu bewerten – das wäre einfach nur frech.
Ich hatte ein neues Verständnis für diese Menschen gewonnen, was ich so auch im Film erzählen konnte.
Eine 200-300 Jahre alte Schriftrolle von einem seiner Vorfahren, angefertigt für die Nachfahren: eine Art Handbuch zum Hotel und wie man ein Familiengeschäft führt. Zengoro war sich selber nicht mehr sicher, wie alt das Stück Papier jetzt genau ist.
Hisae war jetzt schon ein paar Monate in der Leitung des Ryokan – und sie machte ihren Job erstaunlich gut. Sie ist selbstsicher geworden, die Mitarbeiter respektieren sie und auch ihr Vater kann ihre Entscheidungen wortlos akzeptieren. Sie begann langsam eine Vision für die Zukunft zu entwickeln. Es sollen gezielt Touristen aus dem Ausland geworben werden und wir hatten lange Gespräche darüber, wie man das am besten macht.
Am zweiten Tag fragte mich Hisae, wie mir das Essen schmeckte. Köstlich wie immer, sagte ich, und sie war überrascht. „Wirklich?“
Hinter vorgehaltener Hand erzählte sie mir nämlich, dass sie seit April nicht mehr die superbesten Lebensmittel bestellen, um etwas Geld zu sparen. Ich schmeckte den Unterschied nicht, es war nach wie vor köstlich. Es gab zum Beispiel eine Rindersuppe aus Kansai, die mich am ersten Abend so sehr begeistert hat, dass sie extra für mich dann jeden Abend gereicht wurde.
Das Houshi stammt aus einer anderen Zeit.
So ein Satz ist eigentlich klar, aber man muss ihn trotzdem mal aufschreiben. Denn die Zeit, aus der das Hotel gefallen ist, ist nicht 718, als es gebaut wurde. Nicht die Meiji-Zeit (19.Jhd) als die jetzigen Gebäude entstanden sind. Nein, es steckt, wie viele Orte in Japan, gedanklich noch in der Bubble-Economy der 1980er Jahre, als alle irgendwie Geld hatten. Das Houshi ist zu luxuriös, als das es heute überleben kann. Die Kunden von damals existieren einfach nicht mehr.
Die allerfeinsten Zutaten nicht mehr zu bestellen ist da ein logischer, konsequenter Schritt, der fast zu spät kam.
Bei meinem ersten Besuch verwirrte mich am meisten die Bar und der gesamte hintere Teil des Hotels. Vorne wird man begrüßt mit alten Kunstwerken, einem 200 Jahre alten Gong oder der alten Deckenverzierung. Hinten jagt eine stilistische Verfehlung die nächste.
Da ist die Bar, die der verstorbene Sohn aufgemacht hat. Laut Hisae war es sein Lieblingsort im Hotel. Vielleicht weil es der einzige Raum war, den er in seiner Generation gestaltet hat. Alles andere war schon da.
Die Bar kann sich nicht entscheiden zwischen Art Deco und Art Nouveau, und beisst sich komplett mit dem Rest des Hotels.
Über der heissen Quelle, die Treppe hinauf, befindet sich neben einem potthässlichen Barock-Gemälde der große Partyraum, der durch seine Leere wie kein zweiter Raum im Houshi an die vergangene Zeit erinnert.
Mit einer Angestellten kletterte ich dann oben in den Technikraum, um einmal kurz für die Kamera die Lichter anzustellen. Wir mussten tatsächlich klettern, da es keine Treppe gab, nur eine angelehnte Leiter. Mit Kamera und Stativ war das nicht einfach. Oben lag eine dicke Staubschicht auf den Ton- und Lichtschaltern, in der Ecke ein alter Fernseher und Schallplatten mit Enka (japanischen Schlager). Die Angestellte konnte sich nicht erinnern, wann der Raum das letzte Mal für eine Party genutzt wurde.
Zwischen Partyraum und Bar ist ein Wegweiser mit Fotos. Die vergilbten Bilder erinnern an die alte Zeit.
Tänzer aus den Philippinen, die eigentlich in der Küche arbeiteten. Hisae erinnerte sich im Interview wie sie früher als Kind die fremden Stimmen und exotischen Kleider gesehen hat.
Noch ein Stockwerk drüber ist der einzige Partyraum, der noch regelmäßig genutzt wird. Die Szene taucht auch im finalen Film auf. Die Gesellschaft hatte extra einen alten Schlagerstar engagiert. Bis Mitternacht konnte ich das quakige Enka den Gesang leise bis in mein Zimmer hören.
Die Gäste waren wenige in dieser Woche, da sich ein Taifun angekündigt hatte. Mehr als hundert Leute haben ihre Übernachtung storniert, aus Angst vor dem Taifun, der am Ende an Ishikawa komplett vorbei zog.
Mehr als hundert Ausfälle. Das tut am Ende des Monats sehr weh. Hisae resignierte nur „da kann man nichts machen“ und sie ließ sich keine negative Emotion anmerken.
So blieb die Karaoke-Bar offen, aber ohne Besucher. Die Songtexte liefen stumm auf der Maschine im leeren Raum.
Warum ist dieser Teil vom Hotel nicht im Film?
Ich habe lange mit mir gerungen. Zum einen zeigt es ein Hotel, dessen Blütezeit schon lange vorbei ist und seitdem nur noch als leere Hülle existiert. Gleichzeitig ist es ein integraler Bestandteil der Geschichte. Auch das Scheitern gehört zu dieser Familie.
Schlussendlich habe ich es rausgelassen, weil es den Zuschauer sicher so sehr verwirrt hätte, wie mich damals, als ich es gesehen habe. Ist das noch das alte Hotel Houshi? Wo sind wir hier? Was soll diese nackte Frau aus Stein?
Es hätte zu sehr von der eigentlichen Geschichte abgelenkt.
Der Dreh war diesmal entspannter. Ich sammelte weniger Bilder, dafür aber gezielt. Ich plante mehr Pausen ein und besuchte ab und an Naomi in ihrer Bäckerei. Früh aufstehen musste ich aber trotzdem jeden Tag. Insbesondere am Dienstag. Denn da spielte Deutschland gegen Brasilien in der Weltmeisterschaft. Wir erinnern uns alle gerne an das unfassbare 7:1.
Ich glaube, ich habe an diesem Morgen das halbe Ryokan aufgeweckt. Um es etwas zu dämpfen, schrie ich schon in das Kissen von meinem Futon, aber später am Vormittag entschuldigte ich mich trotzdem bei der Rezeption. Die meinten nur: Ach, Deutschland hat so gut gespielt, du hättest ruhig lauter brüllen können!
Im Laufe des Tages sprach mich auch das halbe Hotel drauf an. Gut gespielt! Verdienter Sieg! Glückwünsch! Dabei stand ich nur auf dem Futon und nicht auf dem Rasen.
Stellvertretend nahm ich die Glückwunsche aber an.
Vater Houshi erzählte mir im Interview und auch jetzt wieder vom Schrein Natadera, der eng verbunden ist mit dem Hotel und der Familie. Ich habe lange überlegt, ob mir die Bilder von dort was bringen würden, entschied mich dann aber dagegen. Naomi sagte mir dann aber direkt, dass es Zengoro Houshi sehr begrüßen würde, wenn ich ihn zum Natadera begleite. Ich hatte verstanden.
Mutter, Vater, Tochter, Naomi und ich sind zunächst zum Grab der Familie gefahren. Die Japaner gingen nach der Zeremonie bereits zum Auto, ich brauchte noch ein paar Bilder. Fünf Minuten später verließ ich den Friedhof – doch beide Autos waren weg. Es fing leicht an zu tröpfeln und mein Handy lag im Hotelzimmer. Man hatte mich vergessen.
Eine Viertelstunde später stand Naomi vor mir. Sie hatte gedacht, ich sei mit den Houshis mitgefahren. Die Houshis dachten, ich sitze bei Naomi im Auto. Als alle dann im Natadera angekommen waren, fragten sie sich „Wo ist Fritz?“
Naomi entschuldigte sich die ganze Fahrt bis zum Schrein. Vor dem Eingang wartete die Familie schon auf mich. Hisae bekam einen Anruf vom Hotel und musste schnell wieder zurück. Sie war ja nun Chef. Vater Houshi rezitierte derweil ein Haiku über Natadera.
Der Tempel ist schon beeindruckend, aber die Kamera machte ich kaum an. Vater Houshi meinte zwar, dass die Anlagen viel schöner als das Hotel seien, aber ich wollte ja nicht die Geschichte vom Natadera erzählen.
Mit Naomi hetzte ich kurz nach oben, in eine heilige Felsspalte, die einen von Sünden befreien kann, während Herr und Frau Houshi unten den japanischen Garten betrachteten.
Je länger ich im Houshi blieb, desto weniger Bilder brauchte ich. Es wiederholte sich viel, das meiste hatte ich schon. Nur eine Übersicht von einem Haus in der Umgebung fehlte mir noch.
Ausgerechnet an dem bislang heissesten Tag des Jahres kletterte ich also auf ein Hotel in der Nachbarschaft.
Im Ort gibt es viele Hotels, Ryokan oder Onsen. Und viele Ruinen. Das Ende der Bubble-Economy haben nicht alle verkraftet. Keine fünf Meter vom Houshi befinden sich drei leere Gasthäuser. Es ist dem Houshi hoch anzurechnen, dass es sich mehr als tausend Jahre gegen Taifune, Kriege und wirtschaftliche Talfahrten behaupten konnte.
Frühstück und Abendessen wurden stets im neuen Speisesaal serviert. Dabei wird man aber immer noch vom Personal angestarrt. Beim ersten Abend lag an meinem Platz eine Gabel und ein Messer, statt Essstäbchen. Man wollte höflich sein, da man vom doofen Ausländer fremden Europäer ja nicht erwarten kann, dass er mit Stäbchen hantieren kann, wie normale, kultivierte Menschen Japaner. Problem ist nur, dass japanisches Essen nicht dafür gedacht ist, mit Besteck aus Metall gegessen zu werden.
Die alten, löchrigen Vorhänge im Saal erinnerten noch daran, dass dieser Raum selten genutzt wird. Die Angestellten standen am anderen Ende des Zimmers, beim Reiskocher und dem Grünen Tee. In formvollendeten Japanisch bat ich eine von ihnen mir doch Essstäbchen zu bringen. Sie schaute nur besorgt. „Bist du sicher?“
Ich kannte ihren Namen nicht, nannte sie aber in Gedanken immer Kuh-san. An dem Gesteck in ihrem Haaren, sowie an ihrem Kimono befand sich neben anderen Kinkerlitzchen eine kleine Figur einer schwarz-weißen Kuh.
Frau Kuh brachte mir zögerlich die Stäbchen und fragte, ob ich nun den Reis möchte. Dabei machte sie mit der Hand eine Bewegung Richtung Mund, die essen darstellen sollten. Verstehst du, Fremder? Essen?
Am letzten Tag packte ich zufrieden wieder ein. Die Kamera und ein extra Shirt wieder in der kleinen Tasche, den Rest im Rucksack. Als letzte Aktion im Houshi machte ich von jedem Mitglied der Familie noch ein Portrait. Hisae war am schwierigsten.
Nach jedem dritten Foto überprüfte sie Make-Up und Haare. Ihre Haltung war angespannt und sie traute sich kaum zu lächeln. Sobald die Kamera weg war, scherzte sie und lachte frei. Doch für die Linse traute sie sich nicht. Vielleicht weil sie das Gefühl hatte, als 47. Generation und erste weibliche Besitzerin; als Chefin des 1.300 Jahre alten Ryokan eine gewisse Würde vermitteln zu müssen.
Eine Stunde später bat sie mich, die Fotos noch einmal zu wiederholen, da sie sehr unsicher mit dem Ergebnis war. Es brauchte erst die Bestätigung von Naomi, einer Angestellten und von mir, dass das Foto wirklich gut ist. Dann gab sie Ruhe.
Wieder brachte sie mich mit Mutter und Hund zum Bahnhof und ging erst, als ich im Zug saß.
Ich hatte noch kurz überlegt, nach Gifu zu fahren, um Miki zu besuchen. Aber finanziell war es einfach nicht mehr drin. In knapp einen Monat fahre ich wieder zurück nach Deutschland und ich musste vorher noch einen weiteren Film abdrehen. Mit dem Regionalzug ging es zurück nach Kyoto und von dort dann aber direkt nach Hiroshima mit dem Shinkansen. Das war zwar teuer, aber alle anderen Optionen hätte mich mindestens auch noch eine Übernachtung gekostet. Und nochmal Holzloch wollte ich nicht, nach drei Tagen Luxus.
Im nächsten Teil dann der Hintergrund zum Schnitt vom fertigen Film.
Making of: Houshi, 1. Teil
1,300 Jahre Geschichte, 46 Generationen, sechs Drehtage und knapp 1.000 Euro Budget. Die Arbeit an dem Film brachte mich an die Grenze meine körperlichen und mentalen Belastbarkeit.
Mehr Szenen und Bilder aus, sowie die Geschichte hinter „Houshi“
Hinweis: In diesem Eintrag zeige ich neben den Fotos auch animierte Sequenzen. Die kurzen Videos müssen einmal kurz angeklickt werden, laufen dann aber in einer Endlosschleife. Bewegt man den Mauszeiger vom Clip weg, ist die Illusion perfekt.
Gedreht hatte ich „Houshi“ erst 2014. Gehört hatte ich von dem alten Hotel aber schon 2012. Wie die Puppen landete es auf meiner Liste von „Themen, die man mal machen könnte, wenn Geld und Zeit da sind“. Diese Liste ist zwar nicht so lang, wie man denken könnte, aber es sind auf jeden Fall viele Geschichten dabei. Ich denke es ist auch ein guter Filter, wenn ein Thema in der Liste ist, aber trotzdem noch Jahre später mein Interesse wecken kann. Das zeigt nur, dass die Geschichte stark ist.
November 2013
Die Puppen waren abgedreht und ich war wieder in Hiroshima. Damals hatte ich noch keinen eigenen Arbeitsraum und hing daher ständig bei Miki und Tomomi im CAT rum. Ein sehr entspanntes Zimmer, mit einer kleinen aber ausführlichen Bibliothek und Blick auf den Wald hinter der Uni. Manchmal konnte man Wildschweine sehen.
Miki und Tomomi waren beide zuvor ein Jahr in Hannover und wir halfen uns immer gegenseitig beim Lernen der Sprache des jeweils anderen. Beide konnten auch meine Emails Korrektur lesen, wenn ich wieder eine Anfrage schreiben musste.
Mit den Puppen abgedreht aber noch nicht geschnitten überlegte ich, welche Geschichte folgen kann. Ich bin mit vier Themen nach Hiroshima gekommen, eine war also schon fertig. Eine Geschichte fiel ins Wasser, weil ich keine Erlaubnis bekommen konnte. Eine andere wurde immer größer je mehr ich recherchierte. Und das letzte Thema verschob ich auf mehreren Monate. Also fing ich mit einer neuen Geschichte an. Houshi.
Ich wollte unbedingt den Winter nutzen um ein Hotel zu zeigen, dass seit Jahrhunderten wie in der Zeit festgefroren war. Die Zeit drängte also.
Meine erste Anfrage auf Englisch wurde ignoriert. Meine zweite Email auf Japanisch, die Miki mit viel Seufzen und Kopfschütteln korrigierte, kam durch. Man war bereit für einen Dreh. Meine Hoffnung, dass sie mir die Zimmerpreise erlassen, wurde leider nicht erfüllt. Aber die Familienmitglieder würden mir alle Interviews geben, die ich führen möchte.
Es ging dann noch eine Weile hin und her, Termine wurde verschoben oder kurzfristig abgesagt. Inzwischen tippte Miki komplett alle Mails für mich. Ich wollte sie als Übersetzerin eh mit ins Hotel nehmen und ihre Augen funkelten bei dem Gedanken an ein Onsen.
(Hiroshima ist zwar durchaus eine lebenswerte Stadt, aber mit heissen Quellen ist es wahrlich nicht gesegnet)
Irgendwann im Januar kam auf einmal eine Mail auf Englisch zurück. Sie stammte von Naomi.
Naomi arbeitet zwar nicht direkt fürs Houshi, übersetzt aber immer Mails mit Anfragen aus dem Ausland. Wie ich später erfahren sollte, hat Naomi drei Kinder, ein eigenes Geschäft und studiert noch nebenbei. Naomis Antworten kamen also immer schleppend.
Der Schnee schmolz wieder, aber noch kein Bild im Kasten.
Der Turning Point
Februar 2014 war eine entscheidene Zeit für mich in Japan. Mein Stipendium lief aus und es sah lange Zeit so aus, als würde es nicht verlängert werden. Mein Visum war zwar noch lange gültig und auch die Uni erlaubte es mir, zu bleiben. Doch das Geld wurde langsam knapp. Neben Houshi hatte ich ja noch andere Geschichte, die ich gerne machen würde. Doch leisten konnte ich sie mir nicht mehr. Selbst die 50 Euro Miete im Studentenwohnheim waren nicht gesichert.
Ende Februar kam dann die Nachricht. Ich kann mich noch sehr genau an den Tag erinnern. Der Himmel war wolkig, aber es sah nicht nach Regen aus. Google hatte mir die Tage zuvor immer vom Regen erzählt, also schleppte ich stets einen Schirm mit. Diesmal verzichtete ich drauf.
Kaum stand ich an der Bushaltestelle, ging es los. Wolkenbruch. Aber heftig. Ich fror im nassen Wind und wurde klatschnass. Ein junger Mann hatte Mitleid mit mir und bot mir seinen Schirm an.
In der Stadt saß ich dann wenig später im San Marco in der Hondori, einer Art Starbucks in Japan. Hier war ich jede Woche und arbeitete, wenn die Uni geschlossen war oder ich mal einen Ortswechsel brauchte. Ich hatte den Rechner aufgebaut und schnitt am Video zu den Puppen. Die Hose war immer noch nass. Am Abend dann die Email. Meine Bewerbung wurde bewilligt, das Stipendium verlängert. Ab jetzt noch einmal 1.000 Euro pro Monat bis August!
Diese neue Möglichkeit brachte auch eine Verantwortung mit sich. Ich würde fortan an mein Geld nur noch in meine Filme stecken und ansonsten sparen wo ich kann. Bis August waren es noch sechs Monate. Wenn ich alle Geschichten schaffen möchte, muss ich meine Zeit und mein Budget straff einteilen.
Mein Professor in Hiroshima freute sich auch über mein Stipendium und fragte gleich, was ich damit vorhabe. Ich erzählte ihm von meinen Projekten und er bat mich, die mal der ganzen Fakultät vorzustellen. Auf Japanisch.
Einige Wochen später hing dann dieser Aushang überall in der Universität.
Der hing da sogar bis September, als ich ging
April bis August 2014 war die intensivste, spannendste, anstrengendste, aber auch erfüllendste Zeit, die ich je erlebt habe. Ich arbeitete an drei Filmen, gleichzeitig und parallel, 10 bis 12 Stunden jeden Tag. War ich nicht unterwegs und drehte, bereitete ich Drehtermine vor oder sichtete Material. Nach langen Einreden auf meinen Professor bekam ich nun auch endlich einen Ausweis, um auch am Wochenende die Uni zu betreten. Den Arbeitsraum für Austauschstudenten, der zuvor nur Abstelllager war, räumte ich auf und richtete ihn ein. Ich machte ein kleines Kino daraus, wo wir Austauschstudenten fremde Filme schauten. Es gab nie eine produktivere Zeit in meinem Leben.
Da ich aber immer in mehreren Projekten gleichzeitig denken musste, war die Zeit auch teilweise sehr anstrengend. Ich war oft müde und schlief schlecht. Ich fing damals an, zu Mitternacht, wenn die Arbeit beendet war, den Berg rauf und runter zu joggen. Das half. Und es half natürlich auch die Projekte abzuschließen.
Erster Dreh und erstes Projekt war Houshi. Drehtermin: Anfang April 2014.
Bei Miki, die ich eigentlich mitnehmen wollte, gab es auch eine große Veränderung. Sie war fertig mit der Uni und wechselte für ihren Master ins 400km entfernte Gifu. Ihr letzter Tag in Hiroshima war der Abend bevor ich zum Houshi aufbrechen sollte. Die Präfektur Gifu liegt zwar direkt neben Ishikawa, wo das Houshi Ryokan sich befindet, aber sie kam leider nicht mit mir. Den letzten Abend wollten wir aber noch zusammen verbringen. Auch gerade deswegen, weil sie vorher mir noch die Fragen für die Familie übersetzen wollte.
Vor ihrem Haus parkte ein großer silberner Umzugswagen mit einer schwarzen Katze drauf. Miki ist DJ und ihre ganzen Platten, die teilweise aus Deutschland stammten, mussten nun irgendwie nach Gifu. Gegen 22 Uhr war der Wagen voll, die Wohnung aber noch nicht leer. Hilft halt nix, sagte sie, und bestellte den Laster nochmal für die nächste Woche.
Miki wohnte in einem alten japanischen Haus auf der anderen Seite der Hügelkette auf dem die Universität gebaut war. Es fuhr dort keine Bahn, das machte die Miete billig. Mein Taxi von der Uni brauchte 30 Euro bis es bei ihr war.
Selbst im April kroch die Kälte an diesem Abend in die Reismatten. Miki machte mir den Heiztisch an und ging in die Küche. Pommes machen. Seit ihrer Zeit in Deutschland steht sie tierisch auf Pommes. Zu ihrem Abschied schenkten wir ihr auch eine kleine Fritöse, für ihr Zimmer im Studentenwohnheim in Gifu. Die stand jetzt noch in der Verpackung in ihrem halbleeren Zimmer, weil es nicht mehr in den Laster passte.
„Fritz, ich kann den Sake nicht mitnehmen. Den müssen wir heute trinken!“
Der Abend mit Pommes und Sake war tatsächlich sehr lustig. Wir haben die halbe Nacht übersetzt und Aufzeichnungen von japanischen Popsternchen geschaut. Miki konnte stets mittanzen und -singen, ich schlief irgendwann mal gegen 4 Uhr erschöpft ein.
Wir beide mussten am nächsten Morgen den Zug Richtung Osten erwischen. Unsere Wege trennten sich am Hauptbahnhof Hiroshima. Sie nahm den schnellen Shinkansen, ich die langsamen und billigen Regionalzüge. Keine zwei Stunden später war Miki schon in Gifu, ich war erst am nächsten Tag in Ishikawa. Die Nacht verbrachte ich im Internetcafé in Kyoto.
Ankunft in Awazu
„Hallo, hier ist Journalist Fritz Schumann. Sie erwarten mich.“ Wie vorher abgesprochen sollte ich anrufen, wenn ich am Bahnhof ankomme. In der einen Hand jonglierte ich das Handy, in der anderen die Kameratasche. Bei meinem ersten Anruf in holprigen Japanisch wurde gleich aufgelegt. Bei meinem zweiten Anruf bot man mir jemanden an, der Englisch kann. Der konnte jedoch nur „Herro?“ und das wars. Jetzt legte ich auf. Beim dritten Anruf sagte ich einfach nur „Hallo, ich bin Gast bei Ihnen, können sie mich abholen?“. Das klappte.
Eine halbe Stunde später stand ein älterer Herr mit Brille vor mir. Das Logo auf seiner Schürze erkannte ich. Ich zeigte auf seinen Schritt, vor dem die Schriftzeichen aufgedruckt waren, und fragte „Houshi?“ Er nickte wortlos.
Im Auto war er wenig gesprächig und konnte nur allgemeine Phrasen zu Bergen und Baseballstadien der Umgebung loswerden.
Ein spezieller grüner Tee, der sehr bitter ist, wird zur Begrüßung gereicht, während die Angestellten das Gepäck aufs Zimmer bringen.
Es war 14 Uhr als ich verschwitzt die große Eingangshalle betrat. Unisono begrüßten mich ein Dutzend weibliche Angestellte im Kimono. Und zwar nur mich, ich war der einzige Gast um diese Uhrzeit.
Erst jetzt wurde mir klar, was für ein Luxushotel das Houshi sein musste. Das ich Journalist bin und hier einen Film mache, wusste keiner der Angestellten. In meinem ungebügelten Shirt und den ungekämmten Haaren machte ich auch sicher nicht den Eindruck eines Profis.
Ich war alleine, Ausländer und unter 50 – solche Gäste gibt es im Houshi mehr als selten. Aber man lächelte und stellte eine deutsche Flagge auf den Tresen.
Bevor ich mit der Familie reden konnte, nahm mich einer der Manager beiseite. Er wollte noch einmal von mir hören, was ich denn genau hier vorhabe. Etwas aufdringlich bat er mich, doch alle Fotos, die jetzt hier entstehen, dem Houshi kostenfrei zur Verfügung zu stellen. Ich stimmte erstmal zu, ohne dass ich mich auf diesen Deal einlassen wollte.
Shou, einer der drei chinesischen Angestellten, brachte mich zu meinem Zimmer. Er hatte mehr als nur einen Namen, aber Shou war der einzige, den ich sagen konnte. „Den Namen benutze ich für die Japaner. Ist einfacher auszusprechen.“ sagte er mir.
Mein Zimmer war eines von denen, die 300 Euro die Nacht kosten. Shou war für die nächsten drei Tage allein für mich zuständig. Das gehört dazu, wenn man das Zimmer bucht.
Der Raum war kleiner als ich dachte. Aber ich hatte schon schäbiger gewohnt. Und größer als ein Zimmer in Tokyo ist es alle mal. Dann ging Shou an mir vorbei und schob die Wand auf. Ich befand mich erst im Vorraum, das eigentliche Zimmer, mit Blick auf den Garten, war dahinter.
Ich habe nie teurer gewohnt.
Ich schmiss Rucksack, Kamera und Kabel auf den Boden und brauchte erstmal eine Dusche. Shou meinte, ich solle doch lieber direkt in die heisse Quelle springen. Auch in meinem Zimmer kommt das Wasser der Quelle aus dem Hahn. Er fragte mich noch, wann ich denn speisen möchte, was ich zunächst aber nicht verstand. Er benutzte ein sehr altes, höfliches Wort für Abendmahl, was ich nicht kannte. Erst als er es simpler formulierte „Wann willste essen?“ konnte ich ihm 18 Uhr sagen und endlich duschen.
Die Interviews waren erst am nächsten Morgen. Vorher konnte ich nicht viel machen und nahm mir die Zeit, das Hotel erstmal auf mich wirken zu lassen. Die Größe, die Geschichte, die Preisklasse – all das realisierte ich erst jetzt. Ich wusste gar nicht, wo ich mit der Kamera anfangen sollte. Wie sollte ich alleine die 1,300 Jahre einfangen?
Doch vorher erstmal essen.
In dieser Preisklasse wird das Essen vom eigenen Butler Angestellten auf das Zimmer gebracht. Sein Zimmer, in dem er das Essen vorbereitet, liegt direkt auf dem Flur gegenüber. Von dort bring er die Schüsseln, Teller, Fäßchen mit Spezialitäten. Alles köstlich.
Normalerweise sind zwei oder mehr Gäste beim Essen im Zimmer. Ich war alleine. Der Angestellte ist dazu verpflichtet, beim Essen im Zimmer zu bleiben. Er sitzt neben dem Tisch und beobachtet. Die Idee ist, dass er bei der kleinsten Unzufriedenheit, oder wenn Reis, Wein, Wasser fehlen sollte, sofort eingreifen kann, bevor der Gast auch nur die Chance hat einen Wunsch zu äußern. Eine extreme Form der Höflichkeit.
Da saß ich nun also, irgendwo in Ishikawa, vor meinem 300 Euro Zimmer tanzen die Koi-Karpfen im 400 Jahre alten Garten und ein Chinese guckt mir beim Essen zu. Ihm war das nicht annährend so unangenehm wie mir. Ich fing also an, mit ihm zu plaudern. Was sollte ich auch anderes tun.
Shou ist so alt wie ich und seit einem Jahr im Houshi. Ihm gefällt es ganz gut, auch wenn die Arbeit manchmal anstrengend ist. Ein paar Brocken Englisch kann er auch, die er aber wohl in amerikanischen Filmen gelernt haben musste. Manchmal begrüßte er mich im Hotel mit „Howdy Fritz“.
Ein chinesischer Cowboy im japanischen Hinterland.
Das Abendmahl ging eine Stunde und er hörte nicht auf immer wieder neues Essen zu bringen. Irgendwann schmiss ich ihn dann höflich raus, schaute mir noch die neue Folge von Game of Thrones an und ging früh ins Bett. Am nächsten Tag wollte ich als erstes den Sonnenaufgang vom Hoteldach filmen.
5 Uhr früh, übermüdet und im Halbdunkel schälte ich mich aus dem Futon. Ich sammelte die Kamera vom Boden auf und bereitete den langen Tag vor. Eine Liste der Motive war verstaut neben dem Teleobjektiv. Mit einer Dose CC Lemon ging es aufs Dach.
Es war frisch, doch die ersten Sonnenstrahlen machten es ganz angenehm. Nebenan auf einer uralten Baumkrone hockte eine ganze Schar von Vögeln.
Die Sonne beeilte sich dankenswerter Weise und ich konnte schnell runter zum Frühstück. Shou hatte schon alles aufgebaut. Da ich echt kein Morgenmensch bin, bat ich ihn, mich alleine zu lassen. Das Frühstück war weniger ausführlich als das Abendmahl, also akzeptierte er meine Entscheidung. Er fügte noch hinzu, dass er sofort kommen würde, wenn ich einen Wunsch habe.
Naomi, die mir auf Englisch die Emails schickte, bot an, die Interviews zu übersetzen. Ihr kleinster war krank, also kam sie später. Papa und Mama Houshi begrüßten mich und wir gingen zusammen in einen Raum nahe des Garten. Der Lieblingsraum von Zengoro.
Das Interview verlief etwas kompliziert. Naomi redete häufig über die Aufnahme drüber oder unterbrach die Interviewpartner. Es dauerte eine Weile, bis sie meine Arbeitsweise verstanden hatte. Aber sie übersetzte sehr gut. Sie ist quasi auch im Houshi aufgewachsen, geboren ist sie im gleichen Ort. Sie war aber viel im Ausland, spricht vier Sprachen fließend und ihr Mann ist halb Däne, halb Franzose. Zuhause sprechen sie Spanisch.
Zengoro Houshi und sie hatten schon ein gutes Vertrauensverhältnis, von dem ich jetzt profitierte. Er war sehr ehrlich in seinen Aussagen und beantwortete jede Frage eloquent. Nur die Fragen nach der finanziellen Situation des Hotels und ob er je daran gedacht hatte, es zu verkaufen, ignorierte er. „Diese Frage ist nicht würdig einer Antwort.“
Vor der Tür warteten seine Frau und seine Tochter schon. Vater Houshi redete länger als erwartet, also waren die beiden ungeduldig.
Das Interview mit der Mutter verlief nicht sehr gut. Ich merkte schnell, dass sie sich schon sehr früh mit ihrem Leben und ihrer Situation abgefunden hat. Den Wunsch nach mehr hat sie lange schon aufgegeben. Sie hat immer nur das gemacht, was ihr gesagt wurde, und so reflektierte sie auch kaum ihr Leben oder eigene Entscheidungen. Antwort war immer „So wurde es erwartet“ oder „So ist das halt.“ Nichts was ich wirklich als Tonschnipsel nutzen konnte. Zudem schaute sie ständig in die Kamera, obwohl ich sie stets darauf hinwies es nicht zu tun.
Vater Houshi redete anderthalb Stunden, die Mutter nur 17 Minuten.
Dann kam die Tochter.
Sie ist das Herz des Films. Naomi und die Tochter hatten sich vorher nie getroffen, obwohl sie die Familie Houshi eng kannte.
Für die Tochter Hisae war das Interview eine willkommene Möglichkeit, sich einiges von der Seele zu sprechen. Sie hat kein Ventil, keinen mit dem sie offen und ehrlich reden kann. Das merkte ich im Interview. Sie weinte auch mehr als einmal, aber ich entschied mich dazu, das nicht im finalen Film zu zeigen.
Die Tochter wird nie wieder so ein Interview geben, so viel ist sicher. Sie vermeidet auch die Kamera, wo es nur geht. Doch der Patriarch sagte ihr „wir machen das jetzt.“
Der erstgeborene Sohn ist verstorben und sie soll übernehmen. Der zentrale Konflikt in der Geschichte und in der Familie. Ich habe davon erst an diesem Tag erfahren, ich wusste es nicht, als ich zum Houshi aufgebrochen bin. Also frage ich im Interview die Tochter, was sie dazu denkt, dass sie das Hotel übernehmen soll.
Sie wusste von dieser Entscheidung nicht.
Der Vater sagte es ihr vorher nie, sie erfuhr es von mir im Interview, dass sie die nächste in der 1,300 Jahre alten Familien-Linie sein soll. Dass sie die erste weibliche Besitzerin in 46 Generation sein soll. Dass sie die Zukunft ist.
Sie war sehr verwirrt und wusste nicht, was sie sagen sollte. Aber ihre Antworten waren ehrlich und unverfälscht. Eine einzigartiger Moment in der Geschichte der Familie. Und ich war dabei.
Nach dem Interview ließ der Patriarch ein paar Schüsseln Nudelsuppe kommen. Ich saß bei Naomi und Tochter Hisae, Mutter und Vater Houshi saßen an einem eigenen Tisch.
Ich musste an einen Sketch von Harald Schmidt denken, der mal von einer Beobachtung im Zug erzählte. Ein Paar, seit mehreren Jahrzehnten verheiratet, sitzt im Zug und isst mitgebrachte Brote. Sie pellt ihm ein Ei. Harald Schmidt sagte: „Sie pellte ihm ein Ei, wie man nur jemanden nach 30 Jahren Ehe ein Ei pellen kann.“ Wortlos und mechanisch.
So saßen Mutter und Vater Houshi nun auch am Tisch und schlürften ihre Suppe. Mehr als 50 Jahre verheiratet, schauten beide wortlos aus dem Fenster, auf die alte Theaterbühne, die heute nur noch einmal im Jahr bespielt wird.
Wir gingen raus und machten das Familienfoto. Die Idee, das ganze als Video aufzunehmen, kam mir erst am Abend zuvor.
Tochter Hisae war froh, nun nicht mehr vor die Kamera zu müssen und Mutter Houshi zeigte mir das älteste Gebäude im Hotel. Ihr ganzer Stolz.
Die Nacht für ungefähr 600 Euro aufwärts.
Im gesamten Hotel finden sich häufig Darstellungen von Vögeln. Direkt nebenan gab es ja wie gesagt eine Baumkrone voll davon. Ich wollte daraus eine Metapher basteln, die Vögel für die Freiheit bzw. Unfreiheit der Tochter. Hat sich aber doch nicht ergeben. Aber dafür habe ich viele Vögel-Bilder.
Naomi erhielt nach dem Interview aufgeregte Anrufe ihrer Mutter. Ihr Kind war noch krank bei der Oma und sollte schon längst abgeholt sein. Weil sie meine Arbeit und die Interviews aber so spannend fand, hing sie noch etwas Zeit ran. Eigentlich wollte sie nur zwei Stunden für mich übersetzen, aber da wir uns gut verstanden, machte sie eine Ausnahme. Ich bezahlte ihr nichts für die Arbeit, war also froh über die Unterstützung.
Tochter Hisae erzählte mir von der ältesten Mitarbeiterin. Die würde ich gern mal treffen, sagte ich ihr, und sie zeigte mir einen alten Nebenraum.
Die alte Dame ist über 80 und arbeitet seit fast 60 Jahren im Houshi. Jetzt näht sie die alten Futons und Kissen wieder zusammen, sechs Stunden jeden Tag. Sie erzählt, dass dieses Zimmer früher für die Geishas war. Es hat einen eigenen Eingang und führt durch den Flur direkt zu den Zimmern der Gäste (einige Geishas boten früher auch andere Dienste an).
Das Zimmer wirkte älter als der Rest vom Hotel. Mein Professor und auch Miki gaben mir zuvor in Hiroshima den Hinweis: Alte Reismatten, auf denen man die Spuren vom Leben erkennen kann, gelten als erfahren und schön.
Ich hielt im ganzen Hotel danach Ausschau, fand es aber nur hier.
Die Kälte zog durch die alte, offene Schiebetür nun auch in dieses Zimmer. In Pantoffeln und Socken zitterten meine Zehen. Die alte Dame nähte indes barfuß auf dem kalten Holzboden.
Früher Geishas im Zimmer, heute Anime-Kissen
Nach der Tour durch das alte Herz des Hotels, traf ich Naomi noch in der Lobby. Ich musste die Interviews, die teilweise sehr intensiv und persönlich waren, erst einmal verdauen, also ließ ich die Kamera ruhen und plauderte etwas mit ihr. Sie bot mir an, mir den Rest vom Ort zu zeigen, wenn wir zusammen ihr Kind abholen können.
Sie zeigte mir den Friedhof der Houshi. Die Gräber bieten einen Blick auf die Kirschblüte in voller Pracht. In Hiroshima waren die Blüten zu der Zeit schon verschwunden.
Sie lud mich dann zu sich nachhause ein. Ihr Mann ist Bäcker, sie betreiben eine kleine aber sehr gute Bäckerei, fünf Minuten vom Hotel Houshi entfernt. Sie boten mir Wein, Käse und Brot an, während die zwei kleinsten Kinder nebenan versuchten einzuschlafen.
Zurück im Houshi sammelte ich weiter ein paar Bilder. Eine wirkliche Pause hatte ich nie. Das Problem daran, wenn man am gleichen Ort schläft und dreht ist nämlich, dass man immer nach Bildern sucht. Ich wollte kurz das Brot von Naomi und ihrem Mann genießen und sah an der Wand das Lichtspiel vom Fluss. Also Pause beenden, Kamera aufbauen und Linse einstellen.
Die Tochter Hisae suchte seit dem Interview immer meine Nähe. Sie hatte sich mir anvertraut und hatte nun natürlich die Hoffnung, sich weiterhin auf mich verlassen zu können. Sobald sie aber meine Kamera sah, sprang sie aus dem Bild. Am Abend konnte ich sie beruhigen. Da ich seit 5 Uhr früh bereits auf den Beinen war, waren alle meine Akkus aufgebraucht und leer. Die Kamera musste pausieren. „Hoffentlich bleiben die Akkus ewig leer“ sagte sie.
Jeden Abend bereiten ein oder zwei Angestellte den Futon im Zimmer für die Nacht vor.
Hisae arbeitete am Abend im Souvenirladen des Hotels. Sie sprang auch nur für jemanden ein, der gerade im Krankenhaus lag. Abends kauft auch eigentlich keiner Souvenirs, doch sie stand hier trotzdem. Für jede Ablenkung war sie dankbar und daher bot sie mir an – nachdem sie sah, dass ich keine Kamera mit mir hatte – eine Tour zu geben.
Als wir an den vielen Türen vorbeizogen erzählte sie von Prominenten oder berühmten Sportlern, die in diesen Zimmern übernachtet hatten. Dabei fing sie immer wieder an zu verhandeln. Hisae ist sehr schüchtern und hat eine geringe Meinung von sich und ihrem Aussehen. Ich meinte, dass der fertige Film wohl so sechs Minuten lang sein wird und sie davon einen Anteil von mindestens drei Minuten hat. Im Laufe des Gesprächs wollten sie mich immer wieder runterhandeln. Teilweise mitten im Satz. Das klang dann so:
„Hier in diesem Zimmer hat ein berühmter Baseballspieler übernachtet und bitte gib mir nur eine Minute im Film statt drei. Da drüben übernachtete mal ein Sänger von SMAP.“
Wir gingen auch kurz raus in den Abend und sie zeigte mir andere Stellen im Ort, wo die heissen Quellen unter der Oberfläche sprudelten oder wo sie für ihren Hund das Futter kauft.
Ich sammelte anschließend noch bis 22 Uhr Material und war platt. Ich fühlte nach dem Interview die Last der Geschichte auch auf meinen Schultern. Wie sollte ich das mit einer Kamera darstellen können? Ich hatte das Gefühl die Geschichte nicht so erzählen zu können, wie es sie verdient. Ich suchte weiter verzweifelt nach Bildern und ging meine Liste durch, bis ich nach 17 Stunden fast konstant Drehen in den Futon plumpste. Am nächsten Morgen wollte Vater Houshi eine buddhistische Zeremonie halten, halb 7 Uhr früh. Dafür musste ich bereit sein.
Bei meinem ersten Besuch hielt er die Zeremonie nur für mich. Deswegen drehte ich sie bei meinem zweiten Besuch noch einmal nach, dann auch mit Gästen. In den finalen Film hat es die Szene trotzdem nicht geschafft, weil die Präsenz vom Vater sonst viel zu massiv gewesen wäre.
Als nächstes: Die Quelle.
Ich schnappte mir Shou und ein Handtuch und wagte mich ins Bad. Alle paar Sekunden musste ich die Linse reinigen, weil sie beschlagen war. (Halb)nackt habe ich auch noch nie gearbeitet.
Shou hat aber alles mit sich machen lassen.
Als ich fertig war, verstaute ich Kamera, Objektive, Aufnahmegerät und das nasse Stativ von meinem Professor im Nebenraum und legte mich selbst noch einmal für ein paar Minuten ins Wasser.
Die Quelle der Houshi sprudelte vor Jahrhunderten noch direkt unter der Oberfläche. Heute speist sie sich aus drei Quellen, die zwischen drei und sieben Meter tief sind. Das ist aber kein Vergleich mit den meisten anderen Onsen in Japan, die teilweise mehrere hundert Meter tief pumpen müssen.
Die eigentliche Quelle zeigte mir der Patriarch am Ende meines Besuches. Sie ist überraschend unspektakulär.
Im Interview fragte ich die Familienmitglieder „Spielst du ein Instrument?“ Das ist ein recht praktischer Trick im Film, denn erstens komme ich so an lizenfreie musikalische Untermalung und zweitens ist es eine schöne Szene, abseits vom Alltag. Mutter und Tochter meinten dann, sie spielen bzw. üben Shamisen. Für mich hatten sie jetzt nochmal die Shamisen-Lehrerin kommen lassen und haben einen Unterrichtsstunde eingeschoben. Das ist auch eine schöne Szene im Film geworden.
Die Lehrerin war sehr freundlich und lobte die beiden ständig. Aber so richtig gut spielten weder Mutter noch Tochter… Vielleichts lags auch an der Kamera.
Am dritten Tag war ich fertig. Die Knie wackelten, der Kopf dröhnte. Drei Tage ohne Pause schleppe ich das Stativ und die Kamera nun schon durch das Hotel. Ich renne dem Patriarchen hinterher und versuche Hisae zu filmen, ohne dass sie wegläuft. Ich muss ständig kreativ sein und neue Bildideen suchen um dieser großen Geschichte auch nur annährend gerecht zu werden. So ist mein Anspruch.
Am Tag der Abreise stelle ich enttäuscht fest, dass ich es nicht geschafft habe. Drei Tage sind für 1,300 Jahre einfach zu wenig. Ich war unzufrieden, enttäuscht und frustriert mit mir selbst. Aber ich musste wieder zurück nach Hiroshima.
Ich bezahlte die Rechnung für die drei Tage – kostenlos ging zwar nicht, aber ich bekam 70% Journalismus-Rabatt – und Mutter & Tochter brachten mich zum Bahnhof. Tochter Hisae wollte mir unbedingt noch ihren Hund zeigen, einen lauten Kläffer mit frisierten Fell und französischen Namen. Sie warteten mit mir bis mein Zug einfuhr. Ich sagte noch, dass ich wahrscheinlich wiederkommen muss und Hisae fragte aufgeregt „Wann??“
Erst zurück nach Kyoto, dort eine Nacht im Internet-Café übernachten und dann weiter am nächsten Morgen nach Hiroshima. Als ich dort eine Nacht später aufwachte und zur Uni torkelte, fühlte ich mich, als wäre ich einen Marathon gelaufen.
Es war der anstrengendste Dreh, den ich je hatte. Sicher nicht nur wegen der großen Aufgaben, sondern auch wegen dem mangelnden Schlafen davor, danach und währrenddessen. So konnte es nicht weitergehen. Das mindeste ist, dass ich nächstes Mal Pausen einplane.
Es sollte noch fast drei Monate dauern, bis ich erneut im Houshi zu Gast war.
Tokyo Honig
Aus der Reihe: Geschichten, aus denen nichts geworden ist.
Wie in Berlin, Paris oder London gibt es seit einigen Jahren auch in Tokyo den Trend, mehr Natur in den urbanen Raum zu bringen – und auf Hochhäusern Bienen zu züchten. Zwei Dächer habe ich im Spätsommer 2013 besucht.
Es ist ja nicht so, dass jede Geschichte gelingt oder so einschlägt, wie zum Beispiel die Puppen (die es letzten Monat tatsächlich in die National Geographic geschafft haben). Manchmal ergibt eine Recherche eine Sackgasse, ich finde keinen Ansatz für die Geschichte, keinen Zugang zu den Personen oder es fehlt die Zeit. Ebene Geschichten, aus denen nichts geworden ist. Kurz: Gadngi.
Mitte September 2013 bin ich in Tokyo gelandet, erst am 1.10. musste ich in Hiroshima mein Semester beginnen. Und da ich es nicht mag, tatenlos rumzusitzen, wollte ich vorher noch eine kurze Geschichte reinquetschen. Ich hatte zuvor im Asienspiegel über Honigbienen in Tokyo gelesen und fand das Thema eigentlich ganz interessant. Zuerst besuchte ich das „B-Bee Project“ in Yaesu, auf dem Dach eines bekannten Buchhandels.
Das war schon etwas ulkig. Drei Männer im Anzug, plus eine Dame, die nie was sagte sondern stets nur steif daneben stand. Ich sprach mit dem Gründer des Projekts, ein Professor namens Yamada, der auch etwas Englisch konnte.
Er selbst stammt vom Land und vermisst seit seinem Umzug nach Tokyo die Natur. Das große Erdbeben von 2011 gab dann den endgültigen Anstoß für sein Projekt, Landwirtschaft in die Metropole zu holen. Ihm geht es auch darum, dass Kinder und Jugendliche verstehen, woher ihr Obst und Gemüse kommt.
Für das Dach in Yaesu, in der Nähe von der Tokyo Station, musste er hart kämpfen. Der Besitzer war zunächst dagegen und fürchtete Beschwerden von Kunden oder Anwohner. Mittlerweile ist der Besitzer jedoch stolz darauf, bietet im hauseigenen Café selbstgemachten Honig an und hat nun eine eigene Abteilung für die Bienen und nachhaltige Entwicklung. Herr Yamada erzählte mir das alles sehr stockend, denn der Besitzer kam auch kurz zu dem Gespräch und stellte sich mir vor. Erst als er weg war, merkte ich, wie kompliziert und langwierig das alles vorher gewesen sein musste.
Professor Yamada hat große Pläne. Er möchte Reisfelder auf Dächern von Wolkenkratzern, Schweinefarmen im 40. Stockwerk und noch mehr. Bereits jetzt gibt es einen Versuch mit einer kleinen Ziegenfarm auf dem Dach eines Gebäudes, in dem unten Prada verkauft wird.
Mehr als ein paar hundert dieser kleinen Honig-Gläschen schaffen die Bienen nicht. Aber echter Tokyo Honig ist lecker und sehr mild.
Nach all den großen Plänen und zwei Tassen Kaffee gingen wir dann auch mal hoch in den 11. Stock aufs Dach. Die Aussicht war, nun ja, etwas ernüchternd. Drei Bienenstöcke, von denen nur zwei belebt waren. Aber es war durchaus lustig, die Männer im Anzug imkern zu sehen.
Beim Fotografieren trat ich aus Versehen auf eine Biene und zerdrückte sie. Das tat mir sehr leid, aber Herr Yamada meinte nur: Keine Sorge, in einem Monat, wenn es kalt wird, sind die eh alle tot.
Projekt Nummer 2 liegt an der Geschäftsmeile Ginza und ist dementsprechend mehr Glamour. Ginpachi Ginza gibt es nun schon seit mehr als neun Jahren und sie sind sehr gut aufgestellt, was Öffentlichkeitsarbeit und Vertrieb angeht. Zwei Hochhäuser weiter verkaufen sie ihren Honig in einem Luxus-Kaufhaus.
Sie sind das Vorzeigeprojekt in Tokyo. Eigentlich begann es als kleine PR-Aktion in Sachen Umweltschutz einer großen Firma, mittlerweile sind sie aber sehr bekannt.
Es begrüßte mich wieder ein Mann mit Schlips. Beim gemeinsamen Gang zum Treppenhaus entdeckte ich eine Biene, die wohl vom Dach ausgebüxt sein musste. Der Mann holte einen Käscher aus dem Büro und zielte in ihre Richtung. Es war ein tolles Bild, wie ein erwachsener Mann im Anzug versucht eine einzelne Biene zu fangen. Obwohl er stets nur Japanisch sprach, sagte er dabei wiederholt auf Englisch „No photo!“. Daran hielt ich mich auch. Ich wollts mir ja zu Beginn nicht mit ihm verscherzen.
Oben angekommen sah es auf jeden Fall viel größer und bunter aus, als noch in Yaesu. Chef-Imker Tanaka war bereits im Gespräch mit einem Video-Journalisten aus Australien. Ginpachi Ginza bietet zwei mal im Monat einen Presse-Termin, wo sie das gesamte Team einberufen. Sonst ist es auf dem Dach nie so geschäftig.
Der Mann mit Schlips vom Beginn achtete stark darauf, was und was wir nicht aufnehmen durften. Erst als er etwas abgelenkt war durch den Australier, konnte ich mich etwas freier bewegen. Imker Tanaka war nicht so steif, er ließ viel mit sich machen und beantwortete viele Fragen. Er sprach auch gutes Englisch.
Eine Sache, die ich an dieser Stelle mal erwähnen muss: Ich hasse Wespen. Wobei man da schon fast von einer Phobie sprechen kann. Sobald ich im Sommer eine Wespe in meiner Nähe sehe, werde ich unruhig. Bei allem was summt ist mein erster Gedanke oft „Wespe????“. Bei den Bienen war ich daher instinktiv etwas nervös.
(Auch etwas, dass an Japan so toll ist: Es gibt keine Wespen! Aber dann dafür die gefährlichste Hornisse überhaupt. Auch fantastisch thematisiert in einem Comic von TheOatmeal)
Die Japanische Honigbiene ist anders als seine westlichen Verwandten. Sie ist kleiner und ruhiger. Friedlicher. „Wie echte Japaner!“ meinte mal ein japanischer Kommilitone in Hiroshima zu mir, als ich ihm davon erzählte.
Tatsächlich muss man die Japanische Honigbiene nicht mit Rauch ruhig stellen. Man kann sie sogar streicheln, ohne dass sie aggressiv werden. Wie echte Japaner.
Rechts das Dach, auf dem die Bienen sind
Mir wurde während des Fotografierens schwindelig. Nicht wegen der Bienen, sondern, wie sich später herausstellte, wegen der Grippe, die mir mein Bruder noch in Berlin mit auf dem Weg gegeben hatte. Damit schleppte ich mich drei Tage später auch nach Hiroshima, was so ziemlich das furchtbarste war, an dass ich mich derzeit erinnern kann. 43 Kilo Gepäck und Ausrüstung 900 Kilometer nach Westen bei Fieber und Gliederschmerzen.
Es stellte sich heraus, dass der Mann mit Schlips von Beginn der Sohn von Imker Tanaka ist. Das ergäbe eine interessante Dynamik für eine Geschichte.
Ohnehin: was mich an der ganzen Sache so faszinierte, war der Versuch, den „grauen Moloch Tokyo“, wie es meine Mutter manchmal nennt, durch die Bienen zu beleben. Tatsächlich ist Tokyo sehr grau, gerade wenn man es mit Berlin vergleicht. Viele Versuche für mehr Grün sind auch daran gescheitert, dass es keine Bienen gab. Denn das grüne Umland ist zu weit entfernt, als dass die Bienen diese Strecke fliegen könnten. Tokyos Horizont kennt nur Stadt, man muss schon viele Kilometer fahren, bis es wieder grün wird.
Die Bienen in Ginza und Yaesu bedienen sich bei Dachgärten, dem Kaiserpalast oder kleinen Topfpflanzen in der Umgebung. In Ginza bieten sie sogar einen Honig an, der nur mit Kirschblüten gemacht wurde. Die Sorte „Sakura“ ist leicht golden-rosa und schmeckt so, wie die Kirschblüte riecht. Pro Jahr gibt es aber nur wenige kleine Gläschen voll mit Sakura, also haben sie den Wert von ihrem Gewicht in Gold. Naja, fast.
Der Australier machte das Video für das englischsprachige Metropolis Magazin, für die ich 2009 in Tokyo auch gearbeitet hatte. Er bot diese Geschichte vorher der Redaktion an, die lehnte das Angebot ab, und er drehte es trotzdem, in der Hoffnung, dass sie es eventuell doch abkaufen.
Es lief dann Monate später tatsächlich auf der Website der Metropolis, aber ich weiss nicht ob er dafür Geld gesehen hat.
Nun, warum wurde aus dem Thema nichts?
Das hatte mehrere Gründe. Ich wusste nicht, wie klein oder groß ich es aufziehen sollte, in welchem Format und überhaupt für wen. Ich habe Infos und Kontakte zu zahlreichen dieser Urban-Farming-Projekte in Tokyo gefunden. Man könnte das richtig groß erzählen.
Allerdings sind die meisten Projekte nur für die PR, und so richtig innovativ oder weltbewegend ist keines. Unweit von den Bienen in Yaesu gibt es das Hauptquartier der Firma Pasona, die im Gebäude Reis und Gemüse anbauen. Ich hatte mir das alles im Dezember 2013 auch mal angeschaut. Aber schlussendlich verbrauchen die mehr Energie, als das irgendwie nachhaltig wäre und jemanden etwas nützt.
Ich hatte die Geschichte zwischendrin auch schon mehreren Leuten angeboten, aber es passte nie wirklich rein.
Aber entscheidend war dann schlussendlich einfach die Zeit. Ich war in Hiroshima in anderen Geschichten eingebunden und konnte nicht zu den saisonalen Terminen in Tokyo sein.
Ich würde es nicht ausschließen, da später mal was draus zu machen. Aber jetzt ist die Geschichte erstmal nur für die Schublade. Oder eben den Blog.
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